Frau Gudruns Wurzeln

 

Frau Gudruns Leben dauert bis heute 89 Jahre. Das ist heutzutage zwar immer noch sehr viel, aber schon nicht mehr sensationell. Mehr als in die Lokalzeitung kommt man damit nicht und auch die Bürgermeister schicken schon den stellvertretenden Bürgermeister, um der Hochbetagten - Zahl Herr oder Frau zu werden.

Frau Gudrun hätte auch was dagegen, wenn sie mit etwas Sensationellem ins Käseblatt und zu Bürgermeisterbesuch käme. Dazu ist sie zu zurückhaltend, zu distinguiert. Mit einem Wort: Dame. Nichts würde weniger auf Frau Gudruns Vitalität passen, als die Umschreibung „fit wie ein Turnschuh.“ Aber Frau Gudrun ist fit. Sieht man von den schlanken, fitness-fahrrad-trainierten Beinen ab, die Frau Gudrun nicht mehr die Treppen in ihrer Wohnung im dritten Stock tragen wollen. Treppen, die ich bei meinen Besuchen bei ihr schon seit Jahrzehnten stöhnens- und ächzenswert finde.

Nicht ihr Alter, „Wohnung“ ist das Stichwort, was das kaum Glaubliche an Frau Gudrun ausmacht. Denn Frau Gudrun lebt in eben diesen ihren Räumen (wunderschöne Räume übrigens, Biedermeier und die entsprechende Seelenatmosphäre dazu) seit schreibe und sage 78 Jahren.

1926 zog der frisch berufene Juristenvater mit seiner Familie in diese Räume. Das Mädchen Gudrun war elf Jahre alt. 1938 heiratete Gudrun - wie üblich - ihren eigenen Juristen und zog diesen so an sich, dass er mit ihr zunächst in die schwiegerelterliche Wohnung zog. Und dort blieb, drei Kinder gebar und von dort aus ihre Eltern beerdigte, auf deren Gräber sie vom 3. Stock aus durch winterlich durchsichtige Bäume fast schauen kann. Denn die clevere Mutter hatte die Wohnung „weg von der Straße" gewählt. Und da war der Friedhof Nachbar.

Etliche Menschen, deren Wohnungsraum Denkmalschutz genießt, genießen keinen Fahrstuhl. Deshalb muss Frau Gudrun ihre Wurzeln ziehen und umziehen. In eine Seniorenresidenz. Mit Fahrstuhl. Wem oder was gilt der Abschied nach fast acht Jahrzehnten im selben Wohnraum? Unzählige Male waren das Kind und das Mädchen, die junge Frau und die Dame Gudrun dahinein geflüchtet, wenn draußen zwei Weltkriege tobten.

In diesen Zimmern waren drei Kinder empfangen worden, aufgewachsen und eines gestorben. Zwei Kinder waren solange ein-und ausgegangen bis zum Auszug in ganz eigenes Leben. Der Mann zog aus, um zu sterben. Und in Krisen wie Freuden erlebte Frau Gudrun, wie die Wohnung, die sie behielt, sie hielt. Sicherwünscht sich jeder Mensch auch manchmal aus der Wohnung, will flüchten. Aber da kann die Wohnung nichts zu, sondern nur ihre Bewohner.

„Vielleicht schaffe ich es ja nicht mehr“, sagt Frau Gudrun, ruhig und diszipliniert, „bis dahin“. Schwang da Hoffnung mit, dass der liebe Gott sie vorher zum Nachbar Friedhof begleite, was mit Frieden zu tun hat. Dem Gegenteil von Umzug.

Wünschen wir Frau Gudrun, dass die Bitte von so vielen geistigen Nachbarn bei ihr ankommt, sie möge bleiben. In der neuen Wohnung. Denn Frau Gudruns Wurzeln, die es jetzt umzutopfen gilt, werden mit ihr geliebt. Unabhängig von der Wohnung.

27.07.2004